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Bundeskanzler Scholz heißt Senegals Präsidenten im vergangenen Juni beim G7–Gipfel auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen willkommen.

© REUTERS / LEONHARD FOEGER

Mitsprache für den Globalen Süden: Ein Platz am Tisch

Wie Europa das internationale Demokratiedefizit beheben kann. Ein Gastbeitrag.

Von David McNair

Die Staats- und Regierungschefs der G7 und Europas werden sich immer mehr bewusst, dass sie im globalen Süden an Einfluss verlieren. Das ist nicht wirklich neu, hat sich aber in letzter Zeit erheblich verschärft.

In öffentlichen und privaten Gesprächen auf der UN-Generalversammlung im September machten führende Politiker:innen aus dem globalen Süden deutlich, wie unzufrieden sie mit der Art und Weise sind, wie sich die europäischen Länder aus ihrer Rolle als Hüter des multilateralen Systems zurückgezogen haben.

Sie hätten während der Coronapandemie nur unzureichende Unterstützung geleistet und eine ganze Reihe von Versprechungen gemacht, die nach wie vor nicht eingehalten werden – insbesondere in Bezug auf den Klimawandel.

Die Staats- und Regierungschefs des Südens sind der Ansicht, dass ihre Länder Opfer von Problemen sind, die in und von anderen Regionen verursacht wurden: Die globale Finanzkrise begann auf dem US-Immobilienmarkt, die Corona-Pandemie nahm ihren Anfang in China, Russlands Einmarsch in der Ukraine trug zur globalen Nahrungsmittel- und Energiekrise bei.

Düsterer Wirtschaftsausblick

Und die Industrieländer im globalen Norden verursachten den Klima-Notstand, während Afrika lediglich vier Prozent zu den historischen Kohlenstoffemissionen beigetragen hat.
Die südlichen Länder der Welt stehen vor immensen Herausforderungen. Im Oktober veröffentlichte der IWF den vielleicht düstersten Wirtschaftsausblick seit einem Jahrzehnt.

Seit der globalen Finanzkrise haben gefährdete Staaten nicht mehr einen derartigen Druck erlebt. Insgesamt 1,5 Milliarden Menschen leben in den 25 am stärksten von Verschuldung bedrohten Ländern. Und obwohl der Lebensmittelpreisindex der Vereinten Nationen von seinen unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine erreichten Rekordwerten zurückgegangen ist, sind die Lebensmittelpreise immer noch wesentlich höher als während den vorangegangenen Krisen der Jahre 2008 und 2010.

Internationale Investoren haben im Jahr 2022 70 Milliarden Dollar aus Emerging Market Bond Funds abgezogen, wodurch die Kapitalbeschaffung deutlich teurer und schwieriger geworden ist. Infolgedessen warnen Analyst:innen vor einer „historischen Kette an Zahlungsausfällen“. Die G7-Mächte und die europäischen Staaten haben es nicht nur versäumt, diese Krisen zu bewältigen, sondern sie in vielen Ländern des Südens sogar noch verschlimmert.

Monopol bei den Impfstoffen

In Bezug auf Corona haben die reicheren Länder die Versorgung mit Impfstoffen monopolisiert. Mit Blick auf den Klimawandel befürchten afrikanische Entscheidungsträger:innen, dass die Bemühungen um eine beschleunigte Dekarbonisierung die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in ihren Ländern beeinträchtigen wird.

Die Reaktion auf die Krise der Lebenshaltungskosten – in Form von Zinserhöhungen in den G7-Ländern – verschärft die Unsicherheit in der Nahrungsmittelversorgung und erhöht die Schuldenlast.

Und wenn es darum geht, was die Europäer:innen konkret tun, um den Entwicklungsländern zu helfen, ist die Diskrepanz sehr groß zwischen der Selbsteinschätzung Europas und wie es tatsächlich wahrgenommen wird. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass europäische Entwicklungsprogramme in vielen Fällen unsichtbar bleiben im Vergleich zu Chinas unweigerlich spürbaren Infrastrukturprojekten.

Menschenrechte und Protektionismus

Gleichzeitig werden Versuche der EU, Marktzugänge zur Durchsetzung von Menschenrechten und Umweltstandards zu nutzen, die zu Hause als positiver Einfluss Europas in der Welt anerkannt werden, anderswo als Marktprotektionismus wahrgenommen.

Diese Diskrepanz hat ihre Wurzeln in dem Wunsch des globalen Südens nach Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung. Anstatt Empfänger von Hilfsprogrammen zu sein, wollen die Länder einen echten Platz an den Tischen, an denen die Entscheidungen getroffen werden.

Dieser Wunsch ist vielleicht am stärksten ausgeprägt, wenn es um die Steuerung der Bretton-Woods-Institutionen geht – des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, die 1944 gegründet wurden, um die Stabilität des internationalen Finanzsystems zu sichern und den Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg zu finanzieren.

Gestalten und verwalten

Dem „Gentleman’s Agreements“ nach wählt Europa die geschäftsführende Leitung des IWF und die Vereinigten Staaten die der Weltbank aus. Die Stimmanteile dieser Institutionen sind sehr ungleich verteilt.

So verfügt die Eurozone mit einer Bevölkerung von 342 Millionen Menschen über rund 20 Prozent der Stimmrechte in der Weltbank, während die 54 Länder Afrikas, in denen 1,4 Milliarden Menschen leben, zusammen über einen Stimmanteil von rund sieben Prozent verfügen.

Die Länder des globalen Südens fordern zunehmend spezifische Antworten auf die vorherrschenden Krisen und eine Änderung der Art und Weise, wie Antworten darauf gestaltet und verwaltet werden.

Widerstandsfähigkeit gegen Schocks

Im April, nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, schlugen die afrikanischen Finanzminister:innen eine Reihe von Maßnahmen vor, finanziellen Spielraum zu schaffen, der helfen sollte, auf die Auswirkungen des Kriegs zu reagieren.

Die Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, hat einen neuen Aktionsplan, die Bridgetown-Initiative, vorgelegt. Dieser Plan zielt darauf ab, unmittelbare Geldprobleme anzugehen und die Widerstandsfähigkeit anfälliger Länder gegenüber solcher Schocks zu erhöhen.

Im Juli forderte der senegalesische Präsident und Vorsitzende der Afrikanischen Union (AU), Macky Sall, einen Sitz der AU in den G20. Der indische Außenminister Dr. S. Jaishankar bezeichnete in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung die derzeitige Architektur der Bretton-Woods-Institutionen als „anachronistisch, ineffektiv ... und zutiefst ungerecht, da sie ganzen Kontinenten und Regionen eine Stimme in einem Forum verweigert, das über ihre Zukunft berät.“ UN-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnete das globale Finanzsystem als „moralisch bankrott„.

Europa glänzt durch Abwesenheit

Eine Reihe von G7-Ländern hat auf solche Forderungen positiv reagiert. US-Präsident Joe Biden hat seine Unterstützung für eine Reform des UN-Sicherheitsrats signalisiert, und Japan hat einen Vorschlag für einen ständigen Sitz für Afrika unterstützt.

Doch Europa glänzte bisher durch Abwesenheit. Viele afrikanische Regierungen sind der Ansicht, dass Europa in Bezug auf Nationalstaaten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit predigt, aber in Bezug auf das Demokratiedefizit in den internationalen Institutionen gelassen bleibt.

Diese gefühlte Doppelmoral wird noch dadurch verstärkt, dass Europa ganz gerne mit autokratischen Staaten zusammenarbeitet, wenn es den europäischen Sicherheits-, Energie- und Wirtschaftsinteressen dient.

Versprechen einlösen

Erstens sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs zeigen, dass man ihren Zusagen trauen kann. Das bedeutet, dass sie ihre bestehenden Versprechen einlösen müssen, Notliquidität in Form von Sonderziehungsrechten in Höhe von 100 Milliarden Dollar über den IWF und die multilateralen Entwicklungsbanken bereitzustellen.

Sie sollten zudem ihr Versprechen aus dem Jahr 2009 einlösen, 100 Milliarden Dollar für die Klimafinanzierung bereitzustellen. Und sie sollten diese Mittel schnell und ohne schädliche politische Auflagen zur Verfügung stellen.

Zweitens sollten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs im Vorfeld des G20-Gipfels im November für einen ständigen G20-Sitz für die Afrikanische Union einsetzen. Sie sollten dann 2023 umfassendere Bemühungen unterstützen, um die mangelnde Vertretung Afrikas in den Vorständen von IWF und Weltbank sowie im UN-Sicherheitsrat auszugleichen. Schließlich sollten die europäischen Exekutivdirektor:innen der Weltbank und anderer multilateraler Entwicklungsbanken ihren Einfluss geltend machen, um diese Institutionen zu einer effektiveren Nutzung ihrer Bilanzen zu bewegen.

Eine G20-Expert:innengruppe hat Empfehlungen formuliert, die bis zur Mobilisierung von zusätzlich einer Billion Dollar für die Klima- und Entwicklungsfinanzierung führen könnten. Die USA, das Vereinigte Königreich und eine Reihe anderer G20-Länder unterstützen dies bereits.

Diese konkreten Schritte würden zeigen, dass die europäischen den afrikanischen Ländern zuhören und bereit sind, dringend benötigte Finanzmittel in einer Größenordnung bereitzustellen, die in einer Zeit der Mehrfachkrisen erforderlich ist. Dies könnte dazu beitragen, das nötige Vertrauen zu schaffen, um eine breitere Debatte über die Art der internationalen Institutionen anzustoßen, die im 21. Jahrhundert benötigt werden.

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